Ein Fake macht Karriere
„Marktkonforme Demokratie.“ Wenn man diesen Begriff googelt, erhält man zigtausend Treffer: Stellungnahmen, die sich über eine solche angeblich von Bundeskanzlerin Angela Merkel formulierte Programmatik empören oder sich zumindest in der einen oder anderen Weise daran abarbeiten. Das sind nicht nur die unermüdlich eifernden Querfrontler und Altlinken, sondern auch betuliche Sozialdemokraten oder ausgewiesene Konservative. –
Nur hat Angela Merkel hat diesen Ausdruck nie verwendet. Man mag sich die Schlussphase ihrer Kanzlerschaft wegwünschen wie den Geruch aus Omas Schrank. Aber sie hat es nicht gesagt. So sehr man auch nach Belegen suchen mag, man wird nur fündig bei der Pressekonferenz beim Besuch des portugiesischen Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho am 01. September 2011: Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. Das ist eine parlamentarische Demokratie. Deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments. Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben. (Archiv Bundesregierung). Konkreter Anlass ist die Frage eines Journalisten zum Mitspracherecht der Parlamente bei der EFSF (einem Bestandteil des europäischen Rettungsschirms). Diese Mitbestimmung soll so gestaltet werden
, dass die Finanzmärkte beruhigt und nicht weiter verunsichert werden.
Was ist passiert? Ist es der seit Jahren anhaltende ökonomische Niedergang des Journalismus, der es den Journalisten kaum noch erlaubt, Zeit für Recherche aufzubringen? Ist es ein Stück postfaktischer linker Publizistik? Wer sagt denn, dass nur die Rechten postfaktische Politik betreiben? Ist es ein Denken und Handeln, bei dem nicht etwa nachprüfbare Fakten im Mittelpunkt stehen, sondern die emotionale Ansprache gegenüber den Anhängern des eigenen Überzeugungssystems? Glauben an eine gefühlte Wahrheit? Truthiness?
Tatsächlich spricht der Begriff „marktkonforme Demokratie“ vieles an, was seit der Blütezeit des marktradikalen Denkens vor und nach der Jahrtausendwende sowohl als aktuelle Bestandsaufnahme wie auch als Befürchtung thematisiert wird: dass die Demokratie für die Marktwirtschaft passend gemacht wird, statt dass man die Marktwirtschaft an die Erfordernisse einer demokratischen Gesellschaft anpasst. In der anschließenden Behauptung, Merkel habe diesen Begriff geprägt, wird dann aber ein Merkmal postfaktischen Handelns sichtbar: Wenn ich von der Wahrheit einer Grundtatsache überzeugt bin, zählt es nicht mehr, ob die Belege nachweisbar echt oder falsch sind.
Die Idee, Angela Merkel hätte den Begriff der „marktkonformen Demokratie“ geschaffen, ist für Teilnehmer des öffentlichen Diskurses überaus attraktiv. Man kann sich damit gemeinsam echauffieren und in Stellung bringen. Politische Position und moralische Entrüstung stimmen auf wohlige Weise überein, und es flutet an wie der Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt.
Allein: Merkel hat es nicht gesagt. Hat sie einfach nicht. Es gibt keine andere Quelle als die oben genannte. Als empathischer Mensch überbringe ich die Nachricht ungern, denn ich sage damit meinen Mitmenschen, der Lottozettel mit der Gewinnzahl sei nichts wert. Zahlendreher. Oder wie eine bei Satirikern populäre deutsche Politikerin sagen würde: „Bätschi“.
Dennoch kann ich nicht davon ausgehen, dass mein Einspruch sich jetzt schnell verbreiten wird und damit die Aufmerksamkeits- und Filterblasen reihenweise platzen. Die Ergebnisse von Faktenchecks verbreiten sich nicht einmal halb so schnell wie Fake News, und die Welt des Postfaktischen ist äußerst robust. Hinzu kommt ein weiterer Effekt: Der soziale Beweis. Eine Nachricht wirkt legitimer
, je mehr Aufmerksamkeit sie bekommt und je mehr sie zirkuliert wird. (Hendricks, S. 124 – 125). Durch die ständige Verbreitung und Wiederholung wird Fehlinformation weißgewaschen.
So what, mag man sagen. Die Medien verhandeln rund um die Uhr die eine oder andere fehlerhafte Darstellung: manches davon ist gewollt und manches zufällig. Ich erinnere an Zitate wie Harry, fahr schon mal den Wagen vor aus der Serie „Derrick“. Hat Horst Tappert auch nie gesagt. Dennoch ist dieses Zitat bis heute den meisten Fernsehzuschauern vertraut, allein wegen der häufigen Wiederholung in Fernsehshows. Es gehört zum deutschen Zitatenschatz wie Wanderers Nachtlied. Allerdings wird es meistens augenzwinkernd gebraucht, zur Belustigung der Zuschauer.
Doch die Autoren, die sich an der marktkonformen Demokratie abarbeiten, zwinkern nicht mit den Augen. Sie meinen es. Es ist ein Fake, aber dieses Fake ist so ausdrucksstark und passt so vollkommen in das Gespräch über die soziale und politische Wirklichkeit – dass es einfach wahr sein muss. Es ist wie der Fall Lisa im Jahr 2016: Das konkrete Faktum mag nicht stimmen, und doch wird es als real empfunden. Selbst wenn alternative Fakten als Lüge entlarvt werden, bleibt deren Propagandisten immer noch das Beharren darauf, dass die Grundtatsache trotzdem wahr sei.
Die Jahre vergehen und Angelas Stern ist im Sinken. Viele drängende Probleme, die bisher marktkonform ausgesessen wurden, schlagen jetzt Flammen – man denke nur an die Klimakrise, die Wohnungsmisere und den verschleppten Digitalausbau. Die Regierung hat viele wichtige Aufgaben nicht erfüllt oder den Interessen der Wirtschaft geopfert.
Aber auch mancher Kritiker der Kanzlerin hat seine Arbeit nicht getan. Bilder und Parolen wie die „marktkonforme Demokratie“ sind im Kampf um Aufmerksamkeit griffig und eingängig, zumal wenn ich glaube, für die richtige Sache zu einzutreten. Aber bin ich da nicht eher in etwas hineingetreten? Und fasse ich auch noch mit den Fingern hinein, werde ich es nicht mehr los, so sehr ich auch versuche, es abzuschütteln. Es riecht, und je öfter ich mir die Hände wasche, umso näher kommt der Geruch.
Aktuell, Ende 2018, gibt die deutsche Bundesregierung ein verheerendes Bild ab. Die Faktenlage ist erdrückend. Hört auf, in den Fakes herumzuwühlen, wie Obdachlose in den Mülleimern. Schnappt euch die prallen Fakten! Los geht’s, wer von euch fährt den Wagen vor?
Links zum Thema:
Buzzfeed: Top Fake News über Angela Merkel