Die Vielfalt von Heimat und Identität
Wer bist du, wenn du - in Deutschland geboren und jüdischer Abstammung - als Franzose gefeiert wirst und Verwandtschaft in Spanien hast?
2019 wird in Köln das Offenbach-Jahr begangen. Jacques Offenbach wurde am 20. Juni 1819 in Köln als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Sein Geburtshaus stand in meinem Stadtviertel
, manchmal laufe ich dort vorbei. Als Jugendlicher wurde Offenbach von seinem Vater zur Ausbildung am Cello nach Paris geschickt und fand dort eine neue Heimat. Gleichzeitig behielt er eine enge Verbindung zu seiner Geburtsstadt. Er hatte eine Heimat in Frankreich und eine in Deutschland. Offenbach war also kein Heimatloser. Seine Heimat war Europa, schon ein Jahrhundert bevor man begann, die „europäische Idee“ in die Tat umzusetzen.
In Paris feierte Offenbach einige Jahrzehnte lang große Erfolge erst als Cellist, dann als Opernkomponist (die Bezeichnung „Operette“ verwendete er nur einmal). Als im Juli 1870 der Deutsch-Französische Krieg ausbrach, begann Offenbachs Ruhm zu verblassen. Das Pariser Publikum mied ihn wegen seiner deutschen Herkunft. In der französischen Presse wurde er als Spion Bismarcks bezeichnet
, während ihn die deutsche Presse als Vaterlandsverräter beschimpfte. Er brachte seine Familie nach Spanien in Sicherheit und unternahm Tourneen in Italien und Österreich. (Wikipedia).
Das 19. Jahrhundert war vom Aufkommen der Nationalstaaten und des Nationalismus geprägt. Offenbachs Lebenslauf transzendierte hingegen nationale Grenzen, wie es bei vielen jüdischen Biographien (zum Beispiel Heinrich Heine) der Fall ist. In seinem kulturellen Schaffen blieb er seiner deutschen Herkunft eng verbunden, gleichzeitig bediente er mit überragendem Erfolg den Amüsierbetrieb im Frankreich des dritten Kaiserreichs. Er gilt seitdem als einer der wichtigsten französischen Komponisten. Als die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich in den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 mündete, geriet ihm sein Internationalismus zum Verhängnis.
Heute, im Jahr 2019, wird in der Öffentlichkeit wieder verstärkt über Heimat, Leitkultur und Patriotismus diskutiert. Wir müssen zusehen, wie der Begriff des Patriotismus von den Vertretern eines autoritären Nationalismus okkupiert wird. Heimatliebe als Abgrenzung gegen Andere. Vorbilder wie Offenbach und Heine haben uns vorgelebt, dass es auch anders geht: Verbundenheit und Loyalität zu Menschen verschiedener Seiten – statt Abgrenzung und Feindschaft. Politiker und Autoren, die sich auf die Suche nach einer europäischen Leitkultur machen, können hier fündig werden.
Barcarole aus „Les contes d’Hoffmann“, Grand Théâtre de Genève 2008
„Galop Infernal“ (Cancan) aus der Oper „Orphée aux enfers“, Opéra National De Lyon 1998