Linksliberalismus und Lifestyle-Linke
Im Frühjahr 2021 gelang Sahra Wagenknecht wieder ein großer Bestseller: Unter dem Buchtitel „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ veröffentlichte sie eine Invektive gegen die Gesamtheit progressiver Parteien und Bewegungen in Deutschland. Als Feindbild dient ihr dabei der „Linksliberalismus“, nach Wagenknechts Erkenntnis „eine relativ junge geistig-politische Strömung“, die erst in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlichen Einfluss gewonnen hat.“(S. 12). Wagenknecht sieht in ihr eine überhebliche, „illiberale Denkströmung“ und glaubt sich einig unter anderem mit Noam Chomsky, Mark Lilla, Joanne K. Rowling und Salman Rushdie, die im Juli 2020 einen „Brandbrief gegen die linksliberale Intoleranz und Illiberalität“ verfasst hätten.
Wer Wagenknecht so weit folgen kann – und das scheint die Mehrheit der Rezensenten zu sein – wird ihr wohl auch weiterhin genüsslich schwelgend folgen. Für mich hingegen ist der Genuss getrübt, wenn schon am Anfang das Buch auf einer schiefen Definition aufgebaut wird und Wagenknecht dafür große Namen in Anspruch nimmt, die nie solchen haarsträubenden Unsinn geäußert haben.
– Tatsächlich hat der Linksliberalismus hat in Deutschland eine lange und wichtige Tradition, vor allem in der ersten Jahren der Weimarer Republik (Stichwort DDP). Wagenknecht betreibt hier eine mutwillige Begriffsverwirrung, der ich nicht folgen möchte.
– Chomsky, Lila, Rowling und Rushdie wenden sich in ihrer Erklärung nicht gegen den Linksliberalismus, wie Wagenknecht suggeriert. Sie setzt wohl fest darauf, dass ihre gutgläubigen Leser nicht in der Lage sind, das englische Original zu lesen.
Neben der Umdefinition des Begriffs „Linksliberalismus“ hält Wagenknecht zur Komplettierung des Feindbildes noch eine Neuschöpfung bereit: „Lifestyle-Linke“, also eine soziale Schicht von Bessergestellten, die sich als „urban, divers, kosmopolitisch, individualistisch – links“ definieren.
Frau Wagenknecht und das Volk
Ich überlege kurz, ob ich auch unter dieses Klischee falle. Ich entstamme bescheidensten kleinbäuerlichen Verhältnissen und habe die längste Zeit meines Lebens mit materiellen Sorgen kämpfen müssen
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, wie die meisten Menschen in meinem Umfeld. Trotzdem bin ich urban, divers, kosmopolitisch und individualistisch geworden, wie viele andere auch. Nur links bin ich, im Gegensatz zu Frau Wagenknecht, nicht. Und vor allem nicht reaktionär. Etwas bürgerlich bin ich wohl, aber nicht konservativ oder rechts genug, um Wagenknecht zuzujubeln.
Ich glaube, Frau Wagenknecht würde es gut tun, für einige Zeit die politisch-publizistische Blase zu verlassen und sich unter das „Volk“ zu mischen, jene Spezies für die sie auf allen Kanälen kämpferisch und mit scharfer Zunge streitet. Sie würde dann vielleicht auch entdecken, dass die individuellen Identitäten der Menschen nicht gesellschaftlichem Zusammenhalt und Gemeinsinn entgegenstehen, sondern – anders als vielleicht in den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts – der Respekt für die Diversität eine Voraussetzung für den Zusammenhalt ist.
Kooperiere mit niemandem
Nun gut, ich werde mich weiter durch das Buch hindurchquälen, denn es verspricht ja noch einen zweiten Teil, der als „Programm für Gemeinsamkeit, Zusammenhang und Wohlstand“ angekündigt ist. Ich platze geradezu vor Neugier, mit wem denn Wagenknecht außer mit sich selbst (und vielleicht ihrem Ehemann) noch glaubt, Gemeinsamkeiten entwickeln zu können. Nachdem Sahras eigene handgestrickte linke Bewegung „aufstehen“ erfolglos vor sich hindümpelt, hat sie bestimmt neue, Erfolg versprechende Vorschläge in der Hinterhand. Vielleicht hat sie ja dazugelernt und andere Rezepte entwickelt als das ewige „kooperiere mit niemandem und verurteile sie alle“. Bisher hatte ich eher den Eindruck einer großen Kluft zwischen verbalem Anspruch und politischer Praxis: Während Wagenknecht es sich bei keiner Gelegenheit nehmen lässt
, mit scharfen Worten die soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Spaltung in Deutschland zu geißeln, bekämpft sie gleichzeitig jede Möglichkeit einer praktischen Mehrheitsbildung links der Mitte. An der mühsamen Kleinarbeit im Interesse von Maßnahmen wie steuerlichen Erleichterungen für die sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten, an der Durchsetzung von mehr Lohngerechtigkeit und an besseren Bildungs- und Aufstiegschancen für Kinder aus armen Familien ist sie in der Praxis vollkommen desinteressiert. Das würde ja bedeuten, dass sie sich zu einer Zusammenarbeit und Konsensbildung mit den verhassten progressiven Milieus bereit finden müsste. Denn um Veränderungen herbeizuführen, bedarf es der Organisation von Mehrheiten und nicht nur Rechthaberei.
Die Königin der Talkshows
Das Buch, soweit ich es bisher gelesen habe, ist eine Erbauungsliteratur für Leser, die unter der vermeintlichen links-grün-versifften Meinungsführerschaft leiden und nun goutieren, wie gegen diese – scheinbar geistreich, auf jeden Fall aber rhetorisch machtvoll – ausgeholt wird
, zumal von einer Kronzeugin, die den Ruf hat, selbst weit links zu sein. Es ist die schiere Lust am Reaktionären, die hier von Wagenknecht bedient wird. Für Wagenknecht springt dabei ebenfalls einiges heraus: Noch mehr Talkshow-Termine, Gastbeiträge in Medien, und jede Menge Publicity auf dem Boulevard. Es gibt für Wagenknecht definitiv einen Markt. Und in dem Wettrennen mit Boris Palmer hat sie jetzt wieder die Nase vorn.
https://taz.de/Neues-Buch-von-Sahra-Wagenknecht/!5764480/
https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-clip-4-194.html
Für eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema Identität empfehle ich
Fukuyama, Francis: Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hamburg 2019