Was ist: Social Desirability / Soziale Erwünschtheit

Harmonie vor Wahrheit

In den vergangenen Jahren wurde die Öffentlichkeit auf spektakuläre Weise mit nicht prognostizierten Abstimmungsergebnissen konfrontiert: Trump, Brexit, AfD-Wahlerfolge. Eine der vermuteten Ursachen für die mangelnde Treffsicherheit der Ergebnisse ist der Effekt der sozialen Erwünschtheit. Dieses Konzept wurde 1972 von den beiden Soziologen Derek Phillips und Kevin Clancy entwickelt (Philips/Clancy, 1972).

Im engeren Sinne bedeutet soziale Erwünschtheit (englisch social desirability)  eine Antworttendenz bzw. -verzerrung bei Befragungen in Sozialwissenschaft und Marktforschung sowie psychologischen Testverfahren. Soziale Erwünschtheit liegt vor, wenn Befragte bevorzugt Antworten geben, von denen sie glauben, sie träfen eher auf soziale Zustimmung als die wahre Antwort, bei der sie soziale Ablehnung befürchten (Wikipedia). Professionelle Befragungsmethoden verfügen über Werkzeuge, die unerwünschten Einflüsse sozialer Erwünschtheit zu reduzieren.

Aber nicht nur bei Umfragen spielt soziale Erwünschtheit eine Rolle. Der Effekt tritt auch bei der ärztlichen Anamnese auf, wenn es um Alkohol- und Drogenkonsum, Schlaf- und Beruhigungsmittel oder peinliche Vorerkrankungen geht. Eine wahrheitsgemäße Auskunft ist im Interesse des Patienten, dennoch muss man hier mit dem Einfluss sozialer Erwünschtheit rechnen. Ähnliches gilt für die Äußerung stark abweichender politischer oder weltanschaulicher Standpunkte: Wer mit einer extremen Partei sympathisiert, wird das im Kollegen- oder Freundeskreis eher herunterspielen. Wer stark religiös orientiert ist, wird sich möglicherweise genieren und es nicht öffentlich bekunden, es sei denn, man hat missionarische Ambitionen.

Zu unterscheiden sind: (1) impression management (bewusste Fremdtäuschung, um einen best. Eindruck zu erzeugen), (2) self deception (Selbsttäuschung, bei der die Person davon ausgeht, dass die Einschätzung tatsächlich auf sie zutrifft). (s. DORSCH)Im weiteren Sinne ist soziale Erwünschtheit die Tendenz, sich allgemein in sozialen Situationen entsprechend den Erwartungen anderer zu verhalten (s. Spektrum). Der Effekt sozialer Erwünschtheit bewirkt also eine Anpassung des Handelns an die Normen der Umgebung.

Bei der Bewertung der Bedingungen für Wahrheit und Faktizität gilt es für uns als Nachrichten- und Wissenskonsumenten, den Einfluss sozialer Erwünschtheit auf die Äußerung von Umfrage- und Studienteilnehmern sowie die Berichte der Zeugen von Ereignissen mit im Auge zu behalten. Denn Faktengenauigkeit ist in der Auseinandersetzung mit Populisten und Demagogen die grundlegende Qualität, die uns davor bewahrt, ins Fahrwasser postfaktischen Handelns zu geraten und damit möglicherweise das Geschäft der Gegenseite zu betreiben.


Quellen:

https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/soziale-erwuenschtheit/14507

https://portal.hogrefe.com/dorsch/soziale-erwuenschtheit/

http://lexikon.stangl.eu/1807/soziale-erwuenschtheit/

https://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Erwünschtheit

Phillips, D. L., & Clancy, K. J. (1972). Some effects of ’social desirability‘ in survey studies. American Journal of Sociology, 77, 921–940