Angst schützt uns, macht aber auch manipulierbar
Der Angstforscher Prof. Borwin Bandelow von der Universität Göttingen beschreibt zwei grundsätzlich verschiedene Angstsysteme im Gehirn: Angst haben, aber richtig weiterlesen
Der Angstforscher Prof. Borwin Bandelow von der Universität Göttingen beschreibt zwei grundsätzlich verschiedene Angstsysteme im Gehirn: Angst haben, aber richtig weiterlesen
In seinem Buch Die Kunst kein Egoist zu sein (S. 265) beschreibt der Schriftsteller Richard David Precht das Phänomen der shifting baselines folgendermaßen: Menschen richten ihr Verhalten danach aus, was sie erwarten, was andere tun oder was andere von ihnen wollen. Dabei sind sie in bestimmten Situationen sogar in der Lage, ihr Verhalten so stark zu verändern, dass sie sich von ihren Werten und Überzeugungen weit entfernen. Je unmerklicher diese Verschiebung erfolgt, umso leichter fällt uns die Veränderung. Auf diese Weise ist es möglich, dass uns selbst schwerwiegende Verfehlungen als „Anpassungen“ erscheinen.
Der Begriff shifting baseline stammt ursprünglich aus der Umweltforschung und bezeichnet unterschiedliche Vergleichsmaßstäbe für die Wahrnehmung von Veränderung. Beispiel: Ältere Fischer ebenso wie ältere Umweltforscher nehmen aufgrund ihrer Erfahrungswerte den Rückgang von Fischbeständen deutlicher wahr als jüngere Kollegen. Entscheidend ist also der Bezugspunkt, von dem man ausgeht. Das Shifting-Baseline-Syndrom bezeichnet ein Phänomen verzerrter und eingeschränkter Wahrnehmung von Wandel. Parallel zur Veränderung von Umweltbedingungen kommt es dabei zu Verschiebungen und Veränderungen der Referenzpunkte, die der menschlichen Wahrnehmung beim Bemessen von Wandel dienen.
Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer hat dies 2017 in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ anhand eines historischen Beispiels verdeutlicht: 1933 wäre es noch undenkbar gewesen, jüdische Menschen zusammenzutreiben, zu deportieren und in großem Maßstab zu vernichten, da die meisten Menschen ungeachtet ihrer politischen Zugehörigkeit noch humanistischen Werten und Maßstäben verpflichtet waren. Acht Jahre später hatten sich die Standards in kleinen Schritten weit verschoben, und alle Nichtbetroffenen hielten das inzwischen für erwartbar und normal, vereinbar mit ihren Moralvorstellungen und ihrem Weltbild.
Welzer bezieht sich im Weiteren auf eine Aussage des CSU-Generalsekretärs Scheuer aus dem Vorjahr: Das Schlimmste ist ein fußballspielender ministrierender Senegalese. Der ist drei Jahre in Deutschland – als Wirtschaftsflüchtling – den kriegen wir nie wieder los. Wenn sich der Generalsekretär einer Regierungspartei vor zwei Jahren derart rassistisch geäußert hätte, hätte er laut Welzer zurücktreten müssen. Ein Jahr nach Welzers Interview wurde Scheuer Bundesminister in der großen Koalition. Im Sommer dieses Jahres erregte der bayerische Ministerpräsident Söder Aufsehen mit dem Begriff „Asyltourismus„. Das verhinderte nicht, dass er die Landtagswahl gewann und in seinem Amt bestätigt wurde.
Im Jahr 2021 schaffte es der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer in seinem ständigen Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit, das Wort „N****schwanz“ in den deutschen Wohnzimmern hoffähig zu machen. Von Teilen der deutschen Öffentlichkeit wird er dafür als Held der Meinungsfreiheit gefeiert. Die Aktion wurde als Satire deklariert.
Je häufiger in der Öffentlichkeit grenzwertige Begriffe diskutiert werden, umso mehr setzt die Gewöhnung ein und die Grenzen des Sagbaren verschieben sich. In den USA bewirkt vor allem Präsident Trump mit Beleidigungen und Drohungen gegen Pressevertreter, Minderheiten und Frauen eine ständige Ausweitung dieser Grenzen. In Deutschland stehen wir vor einem Dilemma: Es ist Strategie der AfD, mit immer neuen schwer erträglichen Provokationen und gefährlicher Sprache Aufmerksamkeit zu suchen. Einerseits ist es geboten, gegen solche Grenzverschiebungen laut Einspruch zu erheben. Andererseits erfüllt man damit einen anderen Zweck der Provokation: Man konzentriert die öffentliche Diskussion auf solche Äußerungen und verschafft der rechten Partei erst recht Publizität.
https://en.wikipedia.org/wiki/Shifting_baseline
http://www.kwi-nrw.de/home/projekt-50.html
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kommentar-das-sagbare-und-das-unsaegliche-15688556.html
Das von Susan Benesch gegründete Projekt Dangerous Speach erforscht weltweit den Zusammenhang von Sprache und Massengewalt.
Gefährliche Sprache ist eine Ausdrucksweise (in mündlicher oder schriftlicher Sprache oder Bildern), die das Risiko erhöht, dass die Zielgruppe Gewalt gegen Mitglieder einer anderen Gruppe billigt oder sogar sich daran beteiligt. Die Botschaften gefährlicher Sprache greifen auf folgenden Mittel zurück:
Gegenüber dem Begriff „Hate Speech“ betont „gefährliche Sprache“, dass es vor allem Angst (fear) ist, die Menschen für aufwiegelnde und gewaltschürende Botschaften empfänglich macht. Angst um den Lebensunterhalt und den sozialen Status, Angst vor unkalkulierbaren gesellschaftlichen Veränderungen. Die toxische Kombination aus Angst und Wut führt dann zu Gewalt. Während „Hate Speech“ direkt die Würde des Opfers angreift, hat „gefährliche Sprache“ den Zweck, andere zu menschenfeindlichen Äußerungen und Handlungen aufzuwiegeln.
In einem Interview mit der Washington Post äußert Benesch ihre Sorge über den Einfluss der Rhetorik des amerikanischen Präsidenten Trump auf die Normen des Diskurses. Die Verschiebung dieser Normen habe dazu beigetragen, dass es für mehr Leute akzeptabler werde, andere Gruppen von Menschen abzuwerten und anzugreifen.
Auch in Deutschland verschieben sich die Normen der Rhetorik. Im August 2018 verstieg sich ein AfD-Politiker auf Twitter zu folgender Äußerung: Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Bürger auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach!
Die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren bringt auch eine Verschiebung der Grenzen des Machbaren mit sich (shiftling baselines). Menschenfeindliche Rhetorik erhöht nicht nur die Gewaltbereitschaft gegenüber der angefeindeten Gruppe, sondern auch gegenüber anderen Gruppen von Menschen. US-Präsident Trump hetzt gegen Mexikaner und Journalisten, nicht aber gegen Juden. Trotzdem steigt in diesem Klima der Aufstachelung und des Hasses auch die Bereitschaft zu antisemitischen Ausschreitungen und Gewalttaten.
Wenn eine nur leicht gefährliche Sprache sozial akzeptabler wird, wird auch jene Sprache gebräuchlicher, die eine Stufe gefährlicher ist, sagt Benesch im „Spiegel„-Interview. Debatten seien durchs Internet härter geworden, würden aber statt im Verborgenen öffentlich ausgetragen. Löschen von Beiträgen sei keine Lösung, weil es die Meinung von Menschen nicht verändere. Wichtiger sei es Normen zu verändern. Eine kritische Masse von Menschen muss das Gefühl bekommen, dass es unangemessen ist, sich so zu verhalten oder zu äußern. Gegenrede soll nicht nur gefährliche Sprache anprangern, sondern positive Verhaltensbeispiele aufzeigen – weniger um Hassprediger zu bekehren als um damit die Haltung des Publikums zu beeinflussen.
Susan Benesch hat auch Humor als ein Mittel gegen Hass und Hetze bezeichnet. Ausführliche Untersuchungen zu diesem Thema fehlen aber noch. Bertolt Brecht hat geschrieben: Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser. Ich wünsche mir, dass wir Wege finden, uns nicht nur zu empören, sondern auch die Demagogen und ihre Reden zu verlachen - nicht zu bagatellisieren, aber unseren deftigen Spaß mit ihnen zu treiben.
Susan Benesch: „Wenn man erst wartet, bis ein Land mit Benzin getränkt ist, ist es zu spät“, Der Spiegel 47/2018, S. 142- 145