Antisemitismus gehört zu den Phänomenen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.
Definition
Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die im Hass auf Juden Ausdruck finden kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nicht-jüdische Individuen und/oder ihr Eigentum, gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen.
So lautet die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Die deutsche Bundesregierung hat diese Definition 2017 übernommen. Die Beispiele, welche die IHRA zur Veranschaulichung nennt, haben heftige Kontroversen ausgelöst. Ich finde den Text plausibel und zitiere im Weiteren aus der Erklärung der IHRA:
Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.
Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein:
Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Juden oder die Macht der Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Juden.
Das Verantwortlichmachen der Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-Juden.
Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
Der Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
Der Vorwurf gegenüber Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
Das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel.
Kritisiert wird die Arbeitsdefinition der IHRA von den Unterstützern der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus. Sie werfen ihr vor, den Unterschied zwischen antisemitischer Rede und legitimer Kritik an Israel und am Zionismus zu verwischen.
Antisemitische Verschwörungstheorien
Antisemitische Denkfiguren in rechten, linken und islamistischen Ideologien enthalten Verschwörungstheorien, wonach Juden Medien, Wirtschaft, Regierungen oder andere gesellschaftliche Institutionen kontrollieren. Besonders wandlungsfähig ist der Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“, der in immer neuen Varianten in rechten, linken und islamistischen Ideologien Verwendung findet. In diesen Verschwörungstheorien agieren die Juden als fiktives Kollektiv; vor allem treten sie als „Finanzjudentum“ oder als „Finanzeliten“ in Erscheinung.
Das mächtigste Referenzdokument für die Fiktion einer jüdischen Weltverschwörung sind die „Protokolle der Weisen von Zion„. Obwohl es sich nachweisbar um eine Fälschung handelt, glauben Antisemiten weltweit an die Authentizität dieses Pamphlets. Auch den Nationalsozialisten diente es als Vorlage zur Begründung der Judenverfolgung. Der Text fingiert die Mitschrift eines Treffens jüdischer Anführer („Weisen von Zion“), bei dem Strategien dargelegt werden, um die Weltherrschaft zu erlangen: Kriege, Wirtschaftskrisen, Kontrolle über die Medien sowie Sozialismus, Liberalismus und Kapitalismus.
Israel-Kritik
Gerade weil ich die Politik der rechtsnationalistischen israelischen Regierung kritisiere, finde ich es wichtig, eine klare Trennlinie zwischen legitimer Kritik und offenem oder verkapptem Antisemitismus zu ziehen. Verkappter Antisemitismus zielt nicht direkt auf Juden, sondern sucht sich Ersatzziele wie zum Beispiel den Staat Israel oder (implizit als jüdisch verstandene) Finanzeliten. Das finde ich genauso widerlich wie expliziten Judenhass. Solche Strategien finden nicht nur bei rechten, sondern auch bei manchen „linken“ politischen Akteuren Anwendung. Diese beklagen dann lauthals, man wolle sie mit der „Antisemitismuskeule“ mundtot machen, um Kritik an der Politik des Staates Israel oder an Standpunkten jüdischer Communities und Einzelpersonen zu unterbinden. Tatsächlich wird über die israelische Politik in der deutschen Öffentlichkeit ausführlich und sehr kritisch berichtet, ohne dass diese Berichte der Vorwurf des Antisemitismus träfe – vorausgesetzt, es finden nicht die in oben zitierter Erklärung erwähnten doppelten Standards Anwendung.
Aktuelle Situation in Europa
Eine aktuelle Umfrage (September 2018) von CNN unter über 7000 Teilnehmern in mehreren europäischen Ländern (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Polen, Ungarn, Schweden, Österreich) zum Thema Antisemitismus hat schockierende Ergebnisse zu Tage gebracht. Antisemitische Behauptungen wie „Judenfeindlichkeit ist nur eine Reaktion auf das Verhalten der Juden“ oder „Die Juden benutzen den Holocaust nur, um ihre Interessen durchzusetzen“ erhalten Zustimmungsraten von einem Fünftel bis zu einem Drittel der Befragten. Gleichzeitig gibt es unter jungen Menschen nur wenig Wissen über den Holocaust. Von den befragten Deutschen in der Altersklasse von 18 bis 34 gaben rund 40 Prozent an, „wenig“ oder „gar nichts“ darüber zu wissen. (Die Zeit 28.11.2018).
Amadeu Antonio Stiftung: Chronik antisemitischer Vorfälle
Zum THEMA:
Hass auf Juden: Antisemitismus mitten in Europa | WDR Doku
https://www.youtube.com/watch?v=9LEXgu3JKaQ
Anetta Kahane, Amadeu Antonio Stiftung, im Gespräch
tagesschau24 11:00 Uhr, 12.12.2017
Zum Weiterlesen:
Schäfer, Peter: Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020
Küntzel, Matthias: Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand, Berlin Leipzig 2019
Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/antisemitismus-197.html
https://www.tagesschau.de/inland/antisemitismus-studie-105.html
https://www.sueddeutsche.de/politik/antisemitismus-was-juden-in-deutschland-seit-kriegsende-erleiden-muessen-1.4635391
Umfrage EU Antisemitismus: https://www.tagesschau.de/ausland/umfrage-eu-antisemitismus-101.html
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Berlin 2016
Salzborn, Samuel: Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie, Baden-Baden 2014
https://www.anders-denken.info/informieren/antisemitische-verschwörungsideologien